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GENETIK - "VERERBUNG - ZUFALL MIT SYSTEM" - TEIL 15

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Wir sind immer noch nicht ganz bei den Schildpatt-Katern und noch ein ganzes Stück von den "fruchtbaren" Ausnahmen entfernt.

Sie fragen sich sicherlich, warum wir uns gerade mit der Farbe Orange und mit der Zeichnung Schildpatt so ausführlich beschäftigen und dazu auch noch auf die Ausnahmen so viel Wert legen.

Ein Sprichwort sagt: "Ausnahmen bestätigen die Regel". Für die Naturwissenschaften, also auch für die Biologie und insbesondere die Genetik, läßt sich diese Aussage noch viel weiter fassen. Erst durch Ausnahmen wird der Blick auf den tieferen Sinn der Regelmäßigkeit entschleiert. Und oft genug sind es gerade die Ausnahmen, die uns den Weg weisen, eine Regel zu suchen.

Deshalb bleiben wir unbeirrt auf der Suche nach dem Schildpatt-Kater und eröffnen uns damit den Horizont, auch andere Abweichungen von den Regeln der Vererbung richtig zu erkennen und zu bewerten.

Die wichtigsten Vorarbeiten haben wir schon erledigt. Als Mutter, bei der in der Meiose-I ein Nondisjunction stattfinden soll, nehmen wir natürlich eine Schildpatt-Katze (Ox/ox).

Warum das natürlich ist, das können Sie leicht selbst herausfinden. Versuchen Sie mit einer "roten" oder "schwarzen" Katze (gleiche Definition wie in Teil 13, Heft 2/94) dieselben Eizellentypen durch Nondisjunction zu erreichen, wie in nachfolgendem Schema angegeben. Das wird nicht gehen. Aber die eine Hälfte genau dieser Eizellen-Typen bilden die Grundlage für die Entwicklung eines Schildpatt-Katers.
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NONDISJUNCTION IN DER MEIOSE I UND BEFRUCHTUNG MIT NORMALEN SPERMIEN EINES NICHT-ORANGE KATERS.


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Da haben wir an zweiter Position den Kater in Schildpatt. Sein Genotyp verheißt allerdings nichts Gutes, er wird alle Folgen des Klinefelter-Syndroms tragen und damit vor allem unfruchtbar sein.

Aber lassen wir das erst einmal und schauen danach, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein solches Ereignis denn eintreten wird. Dazu braucht es nicht viel Mathematik. Insgesamt zeigt nur eines unter 600 neugeborenen Kätzchen eine deutliche Chromosomenanomalie, die von einem Nondisjunction ausgeht.

Und davon ist nur jedes dritte ein Kater. Oder anders ausgedrückt: Von einer Schildpatt-Katze kann man mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1800 einen Schildpatt-Kater als Nachkommen erwarten.

Interessant ist, daß mit der gleichen Wahrscheinlichkeit immer mal wieder Katzen in schildpatt oder "schwarz" auftauchen, die sich unnormal entwickeln und unfruchtbar sind. Die Erklärung dafür ist, daß es sich um Superfemales oder Turner-Katzen handelt. Sie haben die gleiche genetische Herkunft wie der Klinefelter-Kater in Schildpatt.

Der Aberrationstyp läßt sich übrigens sehr leicht durch eine einfache Blutuntersuchung bestimmen. Katzen haben normalerweise ein Barr-Körperchen, Kater keines. Dagegen haben Schildpatt-Kater eines, Superfemales zwei und Turner-Katzen kein Barr-Körperchen. Was wir bis jetzt immer noch nicht haben, ist der fruchtbare Schildpatt-Kater. Betrachten wir noch eine andere Kreuzung: Schildpatt-Katze mit Nondisjunction und "roter" Kater.

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NONDISJUNCTION IN DER MEIOSE I UND BEFRUCHTUNG MIT NORMALEN SPERMIEN EINES ORANGEN KATERS.


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Sie haben es sicher vorausgesehen, das Ergebnis ist fast gleich. Nur die Turner-Katze ist jetzt nicht "schwarz", sondern "rot".

Auf jeden Fall wird deutlich, daß auch noch so exotische Ausnahmen die Grundregeln nicht außer Kraft setzen: Ein "rotes" Mädchen hat noch immer einen "roten" Vater und ein "schwarzes" Mädchen einen "schwarzen" Vater.

Und weil X-chromosomale Aberrationen immer noch häufiger sind als autosomale Aberrationen, gibt es gerade bei "rot"- und Schildpatt-Zuchten immer wieder einmal unfruchtbare Tiere mit abnormalem Wachstum von bisher unauffälligen Eltern. Deren Herkunft können wir jetzt ganz gut nachvollziehen.

Um jetzt tatsächlich zu dem "fruchtbaren" Schildpatt-Kater zu kommen, müssen wir zu dem seltenen Fall des Nondisjunction in der Meiose den noch selteneren Fall eines Nondisjunction in der Mitose hinzufügen. Sie sehen, die Sache wird immer unwahrscheinlicher.

Da es ihn aber dennoch gibt und da die Diskussion um seine Entstehung unseren Blick und unser Verständnis für die genetischen Grundlagen schärft, lassen wir uns nicht abbringen.
Die befruchtete Eizelle, aus der der Schildpatt-Klinefelter-Kater heranwächst, hat in jedem Fall den Genotyp (36 As + Oxoxy),

also insgesamt 39 statt 38 Chromosomen. Was kann nun passieren? Wenn alle Mitosen normal verlaufen, dann haben wir einen unfruchtbaren Schildpatt-Kater mit allen Symptomen des Klinefelter-Syndroms.

Störungen der Mitose sind, vor allem in der Embryonalentwicklung, sehr selten. Asymmetrische Mitosen durch Nondisjunction sind jedoch bei unbalancierten Systemen wie dem Klinefelter-Syndrom häufiger als bei Tieren mit normalem Chromosomensatz. Hier ist es natürlich nicht so, daß sich gepaarte Bivalente nicht trennen, wie das in der gestörten Meiose der Fall ist. Bei der Mitose gibt es ja gar keine Homologenpaarung.

Bei der Mitose werden jeweils die beiden Chromatiden eines Chromosoms voneinander getrennt und zu den beiden Zellpolen transportiert. Durch die unausgewogene Chromosomenzahl kann es passieren, daß die Trennung entweder gar nicht erfolgt und die beiden Chromatiden eines Chromosoms gemeinsam zu dem einen oder anderen Zellpol gelangen. Oder aber die Trennung der beiden Chromatiden eines Chromosoms erfolgt zu langsam, die neue Zellmembran wird zu früh eingezogen und die beiden Chromatiden bleiben dann in einer der beiden Tochterzellen liegen.

In beiden Fällen bekommt eine Tochterzelle eine Chromatide zuviel, die andere eine zu wenig.
Jetzt geht es ganz normal weiter.
Von jeder Chromatide wird eine identische Kopie hergestellt und jedes Chromosom besteht wieder aus zwei absolut identischen Chromatiden. Das Ergebnis einer solchen asymmetrischen Mitose sind zwei Tochterzellen, die nicht nur unterschiedliche Genome enthalten, sondern die Genome der beiden Tochterzellen unterscheiden sich auch vom Genom der Ausgangszelle.

Die eine Tochterzelle hat ein Chromosom weniger als die Ausgangszelle, die andere hat ein Chromosom mehr.

Oder, um auf unser System zurückzukommen: Aus einer gewöhnlichen Klinefelter-Zelle (36 As + XXy) entstehen durch Nondisjunction in der Mitose eine normale Zelle (36 As + Xy) und eine andere Form der Klinefelter-Zelle (36 As + XXXy). Die normale Zelle ist sowieso lebensfähig und die beiden Klinefelter-Zellen bedingt durch den Lyon-Inaktivierungsmechanismus auch. Die eine Form hat dann ein Barr-Körperchen, die andere zwei. Allerdings ist die zweite Form deutlich weniger fertil und die von ihr abstammende Zellinie wird bald zugrunde gehen.

Wenn eine asymmetrische Mitose sehr früh in der Embryonalentwicklung passiert, dann haben wir einen sehr interessanten Kater vor uns.
Er besteht nämlich aus zwei oder seltener aus drei Zelltypen: normale männliche Zellen mit dem Orange-Allel (36 As + Oxy)

oder dem Nicht-Orange-Allel (36 As + oxy), Klinefelter-Zellen mit einem Barr-Körperchen (36 As + Oxoxy) und eventuell Klinefelter-Zellen mit zwei Barr-Körperchen und den Genotypen (36 As + O xOxoxy) und (36 As + Oxoxoxy).

Alle Zelltypen können durch den Lyon-Inaktivierungsmechanismus zur Schildpatt-Bildung beitragen. Man nennt solche Tiere auch Mosaik, da sie aus mehreren Zelltypen "zusammengesetzt" erscheinen. Sie sind aber nicht zusammengesetzt, sondern die genetisch unterschiedlichen Bereiche sind durch asymmetrische Mitosen entstanden. Daher ist der Begriff "Chimäre" hier fehl am Platz, denn bei Chimären handelt es sich um Organismen, die durch Genmanipulation tatsächlich aus Genmaterial unterschiedlicher Herkunft meist künstlich "zusammengesetzt" sind.

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Und jetzt kommt der große Knalleffekt! Wenn eine normale diploide Zelle aus einer sehr frühen asymmetrischen Meiose zur Stammzelle der Keimbahn wird, dann ist ein solcher Mosaik-Kater ein fruchtbarer Schildpatt-Kater. Aber eben immer noch kein Schildpatt-Zuchtkater, denn die Spermien können ja, wie jedes andere normale Spermium auch, nur ein X-Chromosom weitergeben, das entweder die Information Orange oder Nicht-Orange tragen kann. Der fruchtbare Schildpatt-Kater vererbt also nicht anders als sein "rotes" oder "Schwarzes" Pendant.

Das dritte Beispiel in Schema 5 stellt nur der Vollständigkeit halber ein weiteres Kuriosum dar. Wenn das y-Chromosom von einem mitotischen Nondisjunction betroffen ist, dann ergibt die Blutuntersuchung nur Zellen mit jeweils einem Barr-Körperchen. Das sind nach klassischer Definition weibliche Zellen, also ein "Kater" mit weiblichen Zellen, natürlich auch unfruchtbar. Die normalen diploiden, auch genetisch weiblichen Zelle können natürlich, selbst wenn sie in die Keimbahn eingehen, auch im umgebenden "männlichen" Milieu keine Spermien bilden.

Das war der lange Weg zum Schildpatt-Kater. Aber nicht das Ergebnis ist an dieser ausführlichen Darstellung wichtig, sondern das Verständnis für außergewöhnliche Ereignisse, die in der Genetik gar nicht so selten sind. Viele unerwartete züchterische Resultate verlangen nicht nach neuen Erklärungen, sie sind nur Ausnahmen von schon vorhandenen Regeln.

Wenn wir das jeweils erkennen, dann können wir uns den folgenden Satz zunutze machen:

Die Ausnahmen"erklären" die Regel oft viel besser als die Regel selbst.

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Diese Serie wurde in 18 Teilen sehr verständlich und detailliert im Jahr 1993 von Roland Fahlisch (Diplom Biologe) geschrieben und in der Zeitschrift Katzen Extra veröffentlicht.

Wir danken Monika und Roland Fahlisch herzlich
für Ihre schriftliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser tollen Serie.

Dreamhunters

(Wir bitten um Beachtung des Copyright - © Roland Fahlisch)
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