Sie haben es sicher vorausgesehen, das Ergebnis ist fast gleich. Nur die Turner-Katze ist jetzt nicht "schwarz", sondern "rot".
Auf jeden Fall wird deutlich, daß auch noch so exotische Ausnahmen die Grundregeln nicht außer Kraft setzen: Ein "rotes" Mädchen hat noch immer einen "roten"
Vater und ein "schwarzes" Mädchen einen "schwarzen" Vater.
Und weil X-chromosomale Aberrationen immer noch häufiger sind als autosomale Aberrationen, gibt es gerade bei "rot"- und Schildpatt-Zuchten immer wieder einmal unfruchtbare Tiere mit
abnormalem Wachstum von bisher unauffälligen Eltern. Deren Herkunft können wir jetzt ganz gut nachvollziehen.
Um jetzt tatsächlich zu dem "fruchtbaren" Schildpatt-Kater zu kommen, müssen wir zu dem seltenen Fall des Nondisjunction in der Meiose den noch selteneren Fall eines Nondisjunction
in der Mitose hinzufügen. Sie sehen, die Sache wird immer unwahrscheinlicher.
Da es ihn aber dennoch gibt und da die Diskussion um seine Entstehung unseren Blick und unser Verständnis für die genetischen Grundlagen schärft, lassen wir uns nicht abbringen.
Die befruchtete Eizelle, aus der der Schildpatt-Klinefelter-Kater heranwächst, hat in jedem Fall den Genotyp (36 As + Oxoxy),
also insgesamt 39 statt 38 Chromosomen. Was kann nun passieren? Wenn alle Mitosen normal verlaufen, dann haben wir einen unfruchtbaren Schildpatt-Kater mit allen Symptomen des Klinefelter-Syndroms.
Störungen der Mitose sind, vor allem in der Embryonalentwicklung, sehr selten. Asymmetrische Mitosen durch Nondisjunction sind jedoch bei unbalancierten Systemen wie dem Klinefelter-Syndrom
häufiger als bei Tieren mit normalem Chromosomensatz. Hier ist es natürlich nicht so, daß sich gepaarte Bivalente nicht trennen, wie das in der gestörten Meiose der Fall ist.
Bei der Mitose gibt es ja gar keine Homologenpaarung.
Bei der Mitose werden jeweils die beiden Chromatiden eines Chromosoms voneinander getrennt und zu den beiden Zellpolen transportiert.
Durch die unausgewogene Chromosomenzahl kann es passieren, daß die Trennung entweder gar nicht erfolgt und die beiden Chromatiden eines Chromosoms gemeinsam zu dem einen oder anderen Zellpol gelangen.
Oder aber die Trennung der beiden Chromatiden eines Chromosoms erfolgt zu langsam, die neue Zellmembran wird zu früh eingezogen und die beiden Chromatiden bleiben dann in einer der beiden Tochterzellen liegen.
In beiden Fällen bekommt eine Tochterzelle eine Chromatide zuviel, die andere eine zu wenig.
Jetzt geht es ganz normal weiter.
Von jeder Chromatide wird eine identische Kopie hergestellt
und jedes Chromosom besteht wieder aus zwei absolut identischen Chromatiden. Das Ergebnis einer solchen asymmetrischen Mitose sind zwei Tochterzellen,
die nicht nur unterschiedliche Genome enthalten, sondern die Genome der beiden Tochterzellen unterscheiden sich auch vom Genom der Ausgangszelle.
Die eine Tochterzelle hat ein Chromosom weniger als die Ausgangszelle, die andere hat ein Chromosom mehr.
Oder, um auf unser System zurückzukommen: Aus einer gewöhnlichen Klinefelter-Zelle (36 As + XXy) entstehen durch Nondisjunction in der Mitose eine normale Zelle (36 As + Xy) und eine andere Form der
Klinefelter-Zelle (36 As + XXXy). Die normale Zelle ist sowieso lebensfähig und die beiden Klinefelter-Zellen bedingt durch den Lyon-Inaktivierungsmechanismus auch. Die eine Form hat dann ein Barr-Körperchen,
die andere zwei. Allerdings ist die zweite Form deutlich weniger fertil und die von ihr abstammende Zellinie wird bald zugrunde gehen.
Wenn eine asymmetrische Mitose sehr früh in der Embryonalentwicklung passiert, dann haben wir einen sehr interessanten Kater vor uns.
Er besteht nämlich aus zwei oder seltener aus drei Zelltypen: normale männliche Zellen mit dem Orange-Allel (36 As + Oxy)
oder dem Nicht-Orange-Allel (36 As + oxy), Klinefelter-Zellen mit einem Barr-Körperchen (36 As + Oxoxy) und eventuell Klinefelter-Zellen mit zwei Barr-Körperchen und den Genotypen (36 As + O
xOxoxy) und (36 As + Oxoxoxy).
Alle Zelltypen können durch den Lyon-Inaktivierungsmechanismus zur Schildpatt-Bildung beitragen. Man nennt solche Tiere auch Mosaik, da sie aus mehreren Zelltypen "zusammengesetzt" erscheinen.
Sie sind aber nicht zusammengesetzt, sondern die genetisch unterschiedlichen Bereiche sind durch asymmetrische Mitosen entstanden. Daher ist der Begriff "Chimäre" hier fehl am Platz, denn bei
Chimären handelt es sich um Organismen, die durch Genmanipulation tatsächlich aus Genmaterial unterschiedlicher Herkunft meist künstlich "zusammengesetzt" sind.